Wasserstruktur

Folgende Fakten habe ich einigen (inzwischen schon etwas älteren) Chemie-Lehrbüchern entnommen.
H. Remy: Lehrbuch der Anorganischen Chemie; Akademische Verlagsgesellschaft Geest & Portig, Leipzig, 1970
L. Kolditz (Hrsg.): Anorganikum; Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1978
L. Kolditz (Hrsg.): Anorganische Chemie; Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin, 1980

Das H2O-Molekül ist ein Dipol. Zwischen den Wassermolekülen werden Wasserstoffbrückenbindungen ausgebildet. Die Wasserstoffbrückenbindung ist eine spezifische Protonenwechselwirkung im Potentialfeld zwischen zwei elektronegativen Atomen. Aus Kernresonanzmessungen läßt sich ableiten, daß der Wasserstoff in Brückenbindungen stark positiviert ist und sich bei starken Wechselwirkungen wie ein Proton verhält. Verbindungen mit Wasserstoffbrückenbindungen sind im allgemeinen zur Ausbildung differenzierterer Strukturen befähigt, die sich bei Veränderung der Bedingungen sehr schnell durch eine entsprechende Strukturwandlung anpassen können. Deshalb besitzt auch die Wasserstoffbrückenbindung für biologische Systeme große Bedeutung.

Die Stärke der Wechselwirkung läßt sich neben der Bindungsenergie auch an der Erniedrigung der Wellenzahl der Valenzschwingung gegenüber der nicht-assoziierten Verbindung und an der Größe des Kernabstandes erkennen. Die Differenz der Wellenzahl im Infrarot-Spektrum der OH-Gruppe in der nicht assoziierten und der assoziierten Verbindung wird als Maß für die Stärke der Wasserstoffbrückenbindung verwendet. Die Existenz eines H-Brückenatoms gilt als erwiesen, wenn der Kernabstand O-O kleiner ist als die Summe der van-der-Waalsschen Radien. Die starke Verkürzung des Kernabstandes O-O führt zu einer starken Überlappung der Orbitale der drei Atome, die nach dem Modell der MO-Theorie zu einem bindenden, nichtbindenden und antibindenden Molekülorbital kombinieren. Die insgesamt vier Valenzelektronen der Brückengruppe besetzen gemäß der energetischenReihenfolge das bindende und nicht bindende Molekülorbital, wodurch eine 3-Zentren-4-Elektronenbindung entsteht. Bei unsymmetrischen Wasserstoffbrücken, gleichartigen Atomen und relativ großen Kernabständen O-O weist die Potentialkurve zwei äquivalente Minima der potentiellen Energie für das Proton auf, die durch ein flaches Maximum getrennt werden. Aufgrund der Eigenschaften des Protons als Elementarteilchen ist die Überwindung des trennenden Potentials durch einen Tunnelmechanismus möglich, so daß unter bestimmten Umständen ein ständiger Platzwechsel des Protons erfolgt. Die Delokalisation des Protons, auch Protomerie genannt, ist um so stärker, je schmaler und niedriger der Potentialwall ist.

Der Name "Wasserstoffbindung" bzw. "Wasserstoffbrücke" wurde von Huggins, Latimer und Rodebusch (1919/20) eingeführt. Aus dem Litergewicht des Wasserdampfes bei 100 °C ergibt sich das Molekulargewicht 18,31, das nur wenig das von der Formel H2O verlangte (18,02) überschreitet. Wasser ist also bei gewöhnlichem Druck im Dampfzustande nur in ganz geringem Betrage assoziiert. Die Assoziation nimmt zu, wenn der Druck vergrößert wird. In organischen Lösungsmitteln besteht das Wasser gänzlich aus Doppelmolekeln (H2O)2. In flüssigem Zustande ist es noch stärker assoziiert. Tammann (1926) gelang es zuerst, aus der Volumenänderung den Assoziationsgrad annähernd zu berechnen. Weiterhin ließ sich durch Vergleich der Infrarot-Absorptionsspektren von Wasser und Eis folgern, daß die assoziierten Molekeln im Wasser, wenigstens zum Teil, eine ähnliche Struktur haben wie das (gewöhnliche) Eis, und Redlich (1929) zeigte, daß die Zahl der "Eismolekeln" mit steigender Temperatur schnell abnimmt. Ebenso beginnen sie bei Druckerhöhung zu verschwinden oder durch Elektrolytzusatz (Erhöhung des "inneren Druckes", Tammann). Aber auch noch bei 100 °C ist das flüssige Wasser in wesentlichem Betrage assoziiert. Dies ergibt sich u. a. aus dem im Vergleich zu den Wasserstoffverbindungen der Sauerstoffhomologen abnorm hohen Siedepunkt des Wassers. Schließlich hat dann Eucken (1948/49) gezeigt, daß die Assoziation des Wassers in einer Bildung von Zweier-, Vierer- (vielleicht daneben Dreier- und Fünfer-) sowie in der Nähe von 0 °C vor allem auch Achter-Aggregaten besteht. Ihre Verteilung in Abhängigkeit von der Temperatur läßt sich ungefähr angeben. Die Achter-Aggregate (deren Häufigkeit mit steigender Temperatur rasch abnimmt) sind diejenigen, die "eisartige" Struktur haben. Sie sind erheblich weiträumiger als die übrigen, und mit ihrer Bildung hängen die thermischen Anomalien des Wassers hauptsächlich zusammen. Innerhalb der einzelnen Aggregate bleibt aber die Anordnung der H2O-Molekeln im wesentlichen die gleiche wie im Kristall.

Beim Wasser entsteht durch Wasserstoffbrückenbindung eine charakteristische symmetrische tetramere Struktur. Die Wasserstoffbrückenbindung führt zu mehr oder weniger starken Molekülassoziationen in allen drei Aggregatzuständen. Die zwischenmolekulare Verknüpfung unter Ausbildung von Wasserstoffbrücken führt zu typischen Ketten-, Schicht- und Raumnetzstrukturen. Bei den Molekülassoziaten des Wassers wurden auch nichttetraedrische Wasserstoffbrückenbindungen nachgewiesen.

Die Fähigkeit zur Ausbildung von Wasserstoffbrücken ist beim Wasser besonders stark ausgeprägt. Das führt dazu, daß im Kristallgitter des Eises jedes Sauerstoffatom von vier Wasserstoffatomen umgeben ist, und zwar von zwei kovalent gebundenen und von zwei Brückenwasserstoffatomen. Hieraus resultiert die tetraedrische Struktur des Wassers, die zu einer ungewöhnlich aufgelockerten Packung führt. Beim Schmelzen des Eises werden die Wasserstoffbrücken teilweise aufgespalten. Es entstehen als Bruchstücke der Eisstruktur Molekülassoziate, die bis zu 100 Wassermolekeln enthalten und die sich in stetigem Aufbau und Zerfall befinden. In schnellem Wechsel (~ 10-11s) können sie Einzelmolekeln anlagern und abspalten. In diesen Clustern befinden sich auch nichttetraedrische Wasserstoffbrückenbindungen, in denen die H-Atome nicht mehr auf der Verbindungslinie zwischen 2 O-Atomen liegen, sondern etwas seitlich verschoben sind (gekrümmte H-Brücken). Hierdurch entsteht eine dichtere Koordination des Wassers. Die Folge ist die anomale Dichtezunahme beim Übergang vom festen zum flüssigen Wasser. Beim Erwärmen des Wassers von 0 auf 4 °C wird durch die Zuführung thermischer Energie die lockere Tetraederstruktur weiter abgebaut, so daß die Dichte zunächst weiter zunimmt. Erst oberhalb 4 °C überwiegt die normale Ausdehnung durch zunehmende Molekularbewegung diesen Effekt. Die Dichte des Wassers nimmt dann, dem üblichen Verlauf entsprechend, allmählich ab. Die Clusterstruktur erklärt auch andere Anomalien des Wassers, wie die hohen Werte der Verdampfungsenthalpie, Oberflächenspannung und spezifische Wärme sowie den Einfluß gelöster Stoffe auf die Eigenschaften des Wassers. Die Vernetzung der Molekeln durch Wasserstoffbrücken führt auch zu einer deutlichen Erhöhung der Viskosität. Von Bedeutung ist ferner die Erhöhung der Polarität der Molekülaggregate, die in relativ hohen Dielektrizitätskonstanten der Flüssigkeiten zum Ausdruck kommt, in denen polymere Molekeln vorliegen. Zur Aufklärung von Flüssigkeitsstrukturen werden häufig die aus der Röntgenstrukturanalyse gewonnenen radialen Verteilungskurven der Elektronendichte herangezogen. Die Tendenz zur Wasserstoffbrückenbindung bedingt auch die besondere Struktur des hydratisierten Protons und Hydroxidions. Auf Grund vieler eingehender Untersuchungen liegt aller Wahrscheinlichkeit nach das Proton als H9O4+, das Hydroxid-Ion als H7O4- vor. Auch im ionisierten Wasserdampf wurde das Teilchen H9O4+ massenspektroskopisch nachgewiesen. Durch verschiedene physikalisch-chemische Methoden konnte der gleiche Hydratationszustand für das Proton auch in wäßrigen Systemen ermittelt werden. Ähnliche Untersuchungen machen es wahrscheinlich, daß das Hydroxidion in wäßrigen Lösungen als trihydratisiertes Teilchen vorliegt.

Im Gegensatz zu den stärkeren kovalenten Bindungen besitzen die schwächeren H-Brückenbindungen nur geringe Lebensdauer. In flüssigem und gasförmigem Zustand werden z. B. bei Zimmertemperatur aufgrund der statistisch verteilten thermischen Energie die Bindungen innerhalb von Bruchteilen von Sekunden gelöst und neu geknüpft.

Literatur:
D. Zahn: Ketten und Löcher in Wasser; Nachrichten aus der Chemie 53 (2005) (8) 751 - 755
M. L. Cowan u. a.: Ultrafast Memory Loss and Energy Redistribution in the Hydrogen Bond Network of Liquid H2O; Nature 434 (2005) 199-202
Water
Solubility of Organic Substances
A Gentle Introduction to Hydrogen Bonding and Structure in Water
M. Chaplin: Water Structure and Properties
J. M. Kaub - Verfahren der Trinkwasseraufbereitung
Biological Chemistry. Water, Hydrogen-Bonding and the Hydrophobic Effect
Biological Macromolecules - Water, Molecular Forces
Thermodynamik des Bodenwassers
E. Steudle: Aufnahme und Transport des Wassers in Pflanzen
J. L. H. Johnson, S. H. Yalkowsky: A Three-Dimensional Model for Water
Mysteries of Water
Struktur und Dynamik größerer Wassercluster und solvatisierter Metallionen
Mikrosolvatcluster mit Wasser
A. Kohlmeyer, W. Witschel, E. Spohr: Long-range Structures in Bulk Water. A Molecular Dynamics Study
A. Kohlmeyer: Computersimulationen von Wasserensembles unter Berücksichtigung der Polarisierbarkeit
A. Kohlmeyer: Randbedingungen und Parameter für Computersimulationen großer Wassersysteme
F. Schulz: Globale Geometrieoptimierung von Alkalikation-Hydratations-Clustern auf TIP4P/OPLS-Niveau mittels eines Genetischen Algorithmus
Ch. Schmelzer: Experimentelle Untersuchungen zu molekularakustischen Eigenschaften von Mischungen aus Wasser und Nichtelektrolyten
R. Polacek: Breitbandige Ultraschallabsorptionsspektroskopie an wässrigen ionischen Tensidlösungen im Frequenzbereich von 100 kHz bis 26 Hz
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K. Faissner: Physikalische und physikalisch-chemische Daten unter der Verwendung von belebtem und unbelebtem Wasser und der Einsatz der Grander-Wasserbelebung in Betrieben
H. Seifert: Hat Wasser ein Gedächtnis?
A. Kaivarainen: Hierarchic Theory of Condensed Matter

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